09/08/18 · Interviews
Quartiermeister: Bier für das Gemeinwohl – Lisa Wiedemuth über nachhaltiges Wirtschaften und soziale Verantwortung
Wirtschaft kann auch anders funktionieren – und Quartiermeister ist der lebendige Beweis dafür. Als Sozialunternehmen zeigt es, dass wirtschaftlicher Erfolg mit Gemeinwohlorientierung vereinbar ist. Doch wie gelingt es, in einem von Großkonzernen dominierten Markt bestehen zu bleiben und gleichzeitig demokratische Strukturen, soziale Gerechtigkeit und nachhaltige Werte zu fördern? Lisa Wiedemuth spricht über die Herausforderungen und Chancen von partizipativer Wirtschaft, Verantwortungseigentum und Netzwerken wie Reflecta – und warum Social Entrepreneurship nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine kulturelle Bewegung ist.
Lisa, magst du dich kurz vorstellen und uns erzählen, welche Rolle du bei Quartiermeister einnimmst?
Hey, ich bin Lisa und seit mittlerweile zehn Jahren bei Quartiermeister aktiv. Aktuell kümmere ich mich im Sozialunternehmen vor allem um den strategischen Stiftungsaufbau und die partizipative Projektförderung. Das heißt in der Praxis, ich koordiniere den Prozess der Ausschüttung unserer sozialen Erlöse und kümmere mich um Netzwerk und Fundraising.
Wir sind das einzige Sozialunternehmen in Deutschland, bei dem Konsument:innen und Engagierte mitentscheiden, wie unsere Erlöse dem Gemeinwohl zugutekommen.
Was macht Quartiermeister als Biermarke „für das Gemeinwohl“ besonders, und welche Impulse hat euch die Partnerschaft mit Reflecta gegeben?
Wir sind bis heute das einzige Sozialunternehmen in Deutschland, das konsequent seine Konsument:innen sowie Engagierte entscheiden lässt, wie unsere erwirtschafteten Erlöse für das Gemeinwohl wirksam verteilt werden. Wir wollen damit zeigen, dass eine Wirtschaft zum Wohle aller – in unserem Fall mit dem Produkt Bier – im bestehenden System möglich ist. So leisten wir nicht nur einen Beitrag zur Verminderung sozialer Ungleichheit, sondern stärken auch demokratische Kompetenzen und Selbstwirksamkeit. Seit der Gründung unserer Stiftung sind wir außerdem unverkäuflich und fest an unsere soziale Mission gebunden.
Als Sozialunternehmen mit wenigen Ressourcen (z. B. externem Kapital) und einem großen Partizipationsanliegen sind Netzwerke wie Reflecta Gold wert. Hier finden wir nicht nur soziale Projekte für unser Portfolio, sondern auch Engagierte und Teilnehmer:innen für gemeinsame Veranstaltungen. Gleichzeitig kann man sich gegenseitig schnell und gezielt helfen, etwa bei steuerrechtlichen Fragen.
Wenn wir über die sozial-ökologische Transformation sprechen, wird das
bestehende Wirtschaftssystem selten grundlegend infrage gestellt,
sondern meist nur folgenlos kritisiert.
Du hast einen spannenden Weg von der Kulturarbeit zur Gemeinwohl-Ökonomie eingeschlagen. Was hat dich zu diesem Schritt bewegt, und was treibt dich in deiner Arbeit an?
Am Anfang konnte ich mir diesen Werdegang selbst nicht ganz erklären. Mittlerweile bin ich jedoch fest davon überzeugt, dass es viel mehr Querverbindungen zwischen Wirtschaft und Kultur geben sollte. Die Gemeinwohl-Ökonomie schafft genau da eine Brücke. Unter Kultur verstehe ich insbesondere Werte, Visionen, Selbstverständlichkeiten und Alltagspraktiken im sozialen Miteinander. Unser alltägliches Verständnis und Praktizieren von bestehenden Wirtschaftsverhältnissen – oder das Hinnehmen einer wachsenden Schere zwischen Arm und Reich – gehören auch dazu.
Wenn wir über die sozial-ökologische Transformation sprechen, wird das bestehende Wirtschaftssystem selten grundlegend infrage gestellt, sondern meist nur folgenlos kritisiert. Es fehlen jedoch häufig alternative Visionen und Lösungswege. Der Kulturwissenschaftler Frederic Fisher sagte einmal: „Es ist einfacher, sich das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen.“ Hier schafft Quartiermeister eine inspirierende Umdeutung, eine Geschichte des Gelingens, die andere in ihrem gesellschaftlichen Engagement anstecken soll. Social Entrepreneurship ist also nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern auch ein kultureller Hebel hin zu einer nachhaltigen und solidarischen Gesellschaft.
Quartiermeister setzt auf das Modell der Gemeinwohl-Ökonomie. Was bedeutet das konkret in eurer täglichen Arbeit, und warum habt ihr euch bewusst für diesen Weg entschieden?
Die Gemeinwohl-Ökonomie setzt ein ganzheitliches Verständnis von nachhaltigem Handeln voraus. Das bedeutet, dass es nicht ausreicht, sich beispielsweise durch CO₂-Kompensationen oder durch eine soziale Erlösverwendung – wie bei uns – das unternehmerische Gewissen reinzuwaschen. Jede interne und externe Entscheidung wird darauf untersucht, welche Auswirkungen sie auf das Wohl verschiedener Bezugsgruppen hat. Dazu zählen auch unsere Lieferant:innen und Mitarbeitenden. Werden diese fair entlohnt und transparent an Entscheidungen beteiligt? Die Gemeinwohl-Bilanz hilft, all diese Aspekte genau zu analysieren. Und das Beste: Nicht nur Sozialunternehmen, sondern alle Unternehmen können diese Matrix anwenden und sich zertifizieren lassen.
Seit der Gründung 2010 habt ihr viele Meilensteine erreicht. Was waren die wichtigsten Entwicklungen, und welche Erfahrungen haben euch besonders geprägt?
Was viele nicht wissen: Quartiermeister startete zunächst als Verein und rein ehrenamtliches Projekt. Ein wichtiger Meilenstein war daher in den ersten Jahren die Professionalisierung und die Gründung einer GmbH mit festen Mitarbeitenden. Dazu zählt auch die Expansion von Berlin in andere Quartiere in Deutschland, die Entwicklung neuer (auch alkoholfreier) Bio-Biere und die Zusammenarbeit mit dem (Bio-)Einzelhandel. Durch dieses Wachstum konnten wir bis heute 320.000 € für den sozialen Zweck sammeln und unseren Vertrieb auf verschiedene Beine stellen. Diese Skalierung hat uns während der Pandemie gerettet.
Neben den Nachwehen von Corona macht uns auch die hohe Inflation in den letzten Jahren zu schaffen. Wie viele andere unabhängige Sozialunternehmen sind wir damit konfrontiert, dass die Produktionskosten steigen, während sich das Kaufverhalten ändert und Menschen wieder – und verständlicherweise – mehr auf den Preis als auf Nachhaltigkeitskriterien achten. Gleichzeitig geht in Deutschland der Bierkonsum zurück. Doch es gibt Erfolge, die uns immer wieder Rückenwind geben, etwa der Gewinn des Deutschen Nachhaltigkeitspreises 2023 oder die Gründung unserer eigenen Stiftung, die unser unverkäufliches Verantwortungseigentum sichert.
Unsere Projektförderung ermutigt Menschen, sich aktiv für eine gerechtere und solidarischere Nachbarschaft einzusetzen.
Mit Kampagnen wie der „Quartiermeister*in“ zum Bio-Hellen setzt ihr auf klare gesellschaftliche Botschaften. Was war hier eure Motivation, und wie tragt ihr insgesamt zu sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit bei?
Wir stehen klassischer Produktwerbung generell skeptisch gegenüber. Wir wollen Menschen nicht zum Mehrkonsum animieren, wie es viele andere Getränkemarken tun. Ebenso wollen wir die Verantwortung für Klimawandel & Co. nicht auf die Konsumentinnen abwälzen. Was wir jedoch können, ist, gesellschaftlich relevanten Themen eine unkonventionelle Plattform zu bieten. Das tun wir, indem wir beispielsweise echte Aktivistinnen wie Raul Krauthausen auf unsere Flaschen setzen, ihre Geschichten erzählen und Menschen damit zeigen, dass das Engagement Einzelner einen großen Unterschied machen kann.
Unsere niedrigschwellige Projektförderung soll motivieren, sich Fragen zu stellen: Wie kann ich mich gegenüber meinen Mitmenschen solidarisch verhalten? Wie kann ich meine Nachbarschaft gerechter und demokratischer gestalten? Welche Projekte gibt es bereits in meinem Kiez? Unser Erlösmodell ist deswegen mehrfach sozial nachhaltig: Es verteilt nicht nur um, sondern stärkt auch demokratische Kompetenzen und gibt genau den Menschen eine Bühne, die wir mit ihrem Engagement als Vorbilder verstehen.
Zusammen ist man weniger allein. Gerade wenn finanzielle Ressourcen fehlen, ist das Netzwerk das A und O für eine erfolgreiche Wirkung.
Welchen Rat möchtest du Menschen mit auf den Weg geben, die selbst gesellschaftlich wirksam werden möchten? Gibt es ein Motto, das dich bei deiner Arbeit begleitet?
Auch wenn ich die letzten sechs Jahre vorwiegend remote von verschiedenen Orten aus gearbeitet habe, mein Motto ist bis heute: Zusammen ist man weniger allein. Gerade wenn finanzielle Ressourcen fehlen, ist das Netzwerk das A und O für eine erfolgreiche Wirkung.
Bevor ich meine Idee gründe und starte, sollte ich lieber schauen, ob es bereits ähnliche Initiativen gibt – und wenn möglich genau dort andocken, statt im Alleingang zu starten. Und wenn ich dann doch allein starte, sollte ich nicht zu lange warten, an die Öffentlichkeit zu gehen. Unfertige Ideen sind keine schlechten Ideen, sondern ermöglichen es anderen, anzudocken und mitzuwirken. Und wer weiß, wer sich als perfektes Gegenstück für deine Idee erweist? Die Reflecta-Community bietet dafür eine wirklich tolle Plattform.